Mittwoch, 25. Juni 2014

à l'est.




Es ist ein guter Tag. Die Wohnungstür ging heute zeitig auf; Tee wurde gekocht. Der Kopf und die Augen sehnen sich ein wenig nach Waldluft und Ruhe; das Herz freut sich  auf das Wochenende; die Ohren singen immer noch peinliche Lieder aus den 90ern (wieso haben wir heute Mittag nur über die schlimmsten Hits aus dieser Zeit gesprochen?!). Ja, ein guter Tag.Die Liste von den zu berichtenden Dingen liegt neben mir, neben der Teetasse und einer Tonne an Dokumenten, die heute Abend zu Wort kommen wollen. Deswegen nicht trödeln, keine Kaffeebohnenschritte machen, sondern loslegen!


1.     Freundin, Verliebte des Theaters genoss ich das vor zwei Wochen stattfindende Festival Premières in Strasbourg. Junge Regisseure und Schauspieler durften zu Wort und Gestik kommen und uns, also das Publikum, im wahrsten Sinne des Wortes, mitreißen. Zwei Stücke durfte bzw konnte ich sehen. Zum einen „Amatorki“ im Théâtre National de Strasbourg. Ein polnisches Stück, voll von Hoffnung, Naivität und Brutalität. Akrobatisch in der Ausführung, herzerweichend. Die Gradwanderung zwischen Ironie, Satire und Tragik war fantastisch gezogen. Am Ende kam ich heraus und fragte mich, wie solche vorhersehbare Hoffnungslosigkeit mich zum Lachen bringen konnte. Der Gedanke an die perfekte Liebe, ein gemütliches Zuhause und Mitgefühl – ja, kann man diese drei Dinge einfach so haben? Oder ist es so wie in dem Lied von Lassie Singers „Warum nette Mädchen niemals glücklich werden“ oder in Funny van Dannen’s „Herzscheisse“ ? Du weisst, dass du es lassen solltest, bevor sich deine Gefühle in Luft auflösen und du nur noch wie Undine dahin schwebst, aber du kannst nicht anders. Irgendetwas lässt dich immer weiter in die Schlucht hineinrennen. Zeigt Amatorki, dass Glück eine Form von Glaube ist?
Was ist dann aber mit dem zweiten Stück, „Dehors“ (belgische Inszenierung), welches von Obdachlosen in der Gesellschaft handelt? Eine Mischung aus fester Inszenierung und Improvisation. Dynamisch, laut, durcheinander. Sei bereit zu folgen. Sei bereit innerhalb von zwei Stunden viele moralische Fragen, die die Schwere eines 5-Gänge-Menüs haben, zu beantworten, auseinanderzunehmen und zu verdauen. Nein, zum letzteren blieb keine Zeit ! Du weißt keine Antwort? Du sagst etwas und bereust es dann, tja, mein Freund, das war es für dich. Jetzt bist du der kaltherzige Misanthrope. Moralische Schwere, die wir beim Anblick von Obdachlosen empfinden, Ekel, weil wir auch keinen Ausweg wissen und Scham, weil wir dann doch nichts tun. Am Ende gab es keine Lösung, keinen Vorschlag. Sieh zu, wie du damit fertig wirst!
Alles in allem war es ein radikales Festival. Keine Grenze zwischen Zuschauer und Schauspieler; es folgte eher einem „mach mit und lerne“. Theater wird immer schneller, immer lauter, immer intimer, immer aggressiver. Weil es so ist? Weil niemand mehr Luftballons gen Himmel schickt?


2.       Ich habe mich letzte Woche in mehreren E-Mails über die FN und Godard’s Aussagen zu diesem Verein ausgelassen. Dem großen Künstler ist also so fade, dass er meint die FN als Premierminister könnte das Land dynamischer machen. Sicherlich, es käme wahrscheinlich zu einer Welle an gezwungenen und freiwilligen Auswanderungen. Ist denn demokratisches Denken nur durch krasse Mittel wieder aufzuwecken? Ich frage mich ja immer, was in den Gehirnen solcher Wähler vorgeht. Woran liegt es? Und wie kommt es, dass auch Ausländer diesen Club wählen? In der Zeile verrutscht? Die Brille zuhause vergessen? Nein, es gibt dafür keine Entschuldigung. Und wenn ich auch für die Filme Godards Respekt habe und den Chapeau ziehe, wird es wohl zukünftig zu einem Prinzip des Boykotts seine Werke nicht mehr zu beachten. Das wäre dann schon der dritte Regisseur innerhalb eines Jahres, der mir den Buckel runterrutschen kann. Jeder darf seine Meinung haben, darf sie laut sagen, aber sollte dann auch mit den Konsequenzen rechnen. Und es gibt Gedanken, die bringen dermaßen die Wände zum Wackeln, das mein Herz laut auf quietscht und Rebellion! brüllt.

3.       Es ist wieder warm. So sehr, dass ich, bizarrer Weise, das Teetrinken erhöht habe. Lecker duftende Sorten stehen in hübschen Metalldosen im Küchenregal und leeren sich in einer Geschwindigkeit, die eigentlich Kundenkarten im Teeparadis verdienen. Immer noch voran der Kusmi-Tee Detox, der nach Blutorange schmeckt, doch habe ich auch einen Lov Organic – Tee angefangen, der mich abends mit zimtigen Charme in die letzten Stunden des Tages schaukelt. Dabei mag ich keinen Früchtetee (nur wenn er von einer sehr lieben Freundin in Porzellantassen gegossen und angeboten wird). Aber das absolute Tee-Muss ist eiskalter Pfefferminztee. Literweise wird dieser abends, während des Suchens nach tiefgründigen Worten, weggetrunken. Das erfrischt Herz und tut dem Kopf gut.



Sollte dies nun erst einmal reichen? Es war noch die Fête de la Musique, die ich bei einem herrlichen Ball aus dem Jahre 1900 – 1930 verbrachte. Wunderbare Kleider, noch wunderbarere Hüte und galante Herren in Anzügen. Polka, Walser, haste nicht gesehen und das alles bei 30 Grad im Schatten. Ich stand daneben, wackelte hin-und her und tanzte Tango mit meinem Fotoapparat. 

  
Nun, das war ein kleiner Rundblick. Ich genieße jeden Morgen den Weg zur Arbeit, vorbei am Théâtre National de Strasbourg und an der Opéra national du Rhin. Ich kann gar nicht genug von den Märkten jeden Mittwoch und Freitag bekommen, bei denen meine Lust Blumen zu besorgen ins Unermessliche steigt. Und dann, wenn ich am Trolleybus vorbeikomme, spult das Kopfkino zu diesem einmaligen Abend vor ein paar Wochen zurück: es war fast Mitternacht, die Hitze des Tages ruhte auf den Steinen, er und ich hielten uns ganz fest und ließen den Lärm um uns herum lärmend sein. Nur er und ich, etwas schäumendes Kaltes in riesigen Gläsern und Strasbourg. 


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